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Literatur

Leseprobe: »Ich und der Islam«

 

Die Autorin Linda Christanty gehört zu den kritischen und mutigen Stimmen indonesischer Frauen. Indonesien Magazin | Online dokumentiert mit freundlicher Genehmigung des Horlemann Verlags das Kapitel »Ich und der Islam«, aus ihrem Essay- und Reportagenband »Schreib ja nicht, dass wir Terroristen sind! – Essays zu Politik, Gender und Islam von Banda Aceh bis Berlin«.

von Linda Christanty, vorgestellt von InMaOn / JH

 

Linda Christanty; Bildquelle: Gunnar Stange 

 


 

Als der Mann erfuhr, dass ich eine Muslima bin, verließ ihn der Mut. Ein Engländer, dessen Namen ich vergessen habe. Er war als Mitglied einer Vereinigung internationaler Korrespondenten in Hongkong bei einer Diskussion zum Thema Islam und die moderne Welt aufgetaucht. Nachdem ich ihm auf Nachfrage auch den Namen meines Vaters, Abdul Malik, verraten hatte, hatte er noch ungläubiger reagiert.

 

Mein Name führt in aller Regel bei Menschen, die glauben, dass Muslime notwendigerweise arabische Namen tragen, zu falschen Schlussfolgerungen. Es wird allzu gern vergessen, dass der Islam über die Halbinsel seiner Entstehung hinaus Gegenden erreichte, deren Einwohner keine Araber waren. Dennoch habe ich weder protestiert, als meine kleine Schwester ihren Erstgeborenen Muhammad Faturrahman, noch als mein kleiner Bruder seinen Jüngsten Muhammad Habiburrasul nannte.

 

Laut unserem Familienstammbaum ist mein Vater der 38. Nachfahre des Propheten Mohammed aus der Linie seines Enkels Husayn ibn Ali, der von den Soldaten des Yazid ibn Muawiyah in der Schlacht von Kerbala in der Nähe von Najaf im heutigen Zentralirak im Jahre 680 getötet wurde. Unsere Verwandten sind über den gesamten Globus verstreut. Einige leben in Indien. Einer von ihnen war Sayyid Jamaluddin bin Sayyid Ahmad Syah Jala­luddin Azmat Khan bin Sayyid Amir Abdullah bin Sayyid Abdul Malik Azmat Khan, ein Prinz aus Nasirabad in Nordindien. Eines Tages verließ er Nasirabad aufgrund politischer Konflikte und weil er den Islam in die Welt tragen wollte. Er und fünfzig seiner Anhänger segelten vom Hafen von Malabar in den Golf von Bengalen an die Küsten des heutigen Bangladesch und Myanmar. Von dort aus reisten sie auf dem Landwege nach China, von wo aus sie zunächst nach Vietnam und dann weiter zum indonesischen Archipel segelten. Sie erreichten Ostjava im Jahre 1392 während der Regentschaft von König Wikramawardhana des Majapahit-Reiches. Ein anderer Vorfahre meines Vaters, Prince Purbaya bin Sultan Agung Tirtayasa von Bantam, wurde nach Nagapattinam, Tamil Nadu, in Südindien verbannt, weil er sich gegen den holländischen Kolonialismus aufgelehnt hatte. Dort verbrachte er 14 Jahre im Exil (1716–1730), bevor er wieder nach Batavia, das heutige Jakarta, geschickt wurde, wo er nach nur zwei Jahren starb.

 

Viele denken wegen des »Christ« in meinem Namen, dass ich nur eine Katholikin oder Protestantin sein könne. Sie verbinden den Namen mit Jesus Christus, dem Erlöser aus Nazareth, den die islamische Gemeinschaft als »Isa Almasih« kennt, einen der vielen Propheten vor Mohammed. Vom Typ her ähnele ich wohl eher Chinesen aus Hongkong oder Japanern. Trotzdem ist mein Familienstammbaum voll von arabischen Namen.

 

Der Kombination meines Namens und meines Aussehens habe ich so einige komische Situationen zu verdanken. Als ich das Gymnasium besuchte, entschied ich mich für den islamischen Religionsunterricht, weil alle meine Freunde auch dort waren. Allerdings wurde ich nie dazu aufgefordert, aus dem Koran zu lesen. Immer wenn die Reihe eigentlich an mir gewesen wäre, rief unsere Lehrerin einen anderen Schüler auf. Sie war in den mittleren Jahren und stets in einen Schleier und ein weites Kleid (baju krurung) gehüllt. Vielleicht hielt sie mich ja für eine frische Konvertitin und wollte mich nicht damit quälen, in einer Sprache vorlesen zu müssen, die ich nicht täglich gebrauchte. Trotz allem musste sie mich beurteilen und eine Note in das Klassenbuch eintragen. Während sie also versuchte, meinen tatsächlichen Fähigkeiten auf den Grund zu gehen, stellte sie erstaunt fest, dass ich als Muslima geboren war, und fragte mich verwirrt: »Weshalb heißt du Christanty?«

 

Der Urheber dieses Problems war mein Vater. Als Fan der Weltklasse-Tennisspielerin Chris Evert konnte er nicht anders, als seine erstgeborene Tochter nach ihr zu benennen. Der Anhang »-tanty« hatte lediglich kosmetische Funktion und sollte den Namen noch schöner machen. Meinen Vornamen lieh sich mein Vater von der Tochter des ehemaligen US-Präsidenten Lyndon B. Johnson, die er für intelligent und hartnäckig, kurzum für sehr liebenswert hielt. Wenn ich mich recht erinnere, war allerdings der Markenname der Nähmaschine, die wir zu Hause hatten, auch Linda.

 

Eines Tages schlug mein Vater eher im Scherz vor, meinem Namen »Siti« voranzustellen. Jemand hatte versucht, ihm weiszumachen, dass meine rebellische und dickköpfige Art der Tatsache geschuldet sei, dass mein Name nicht islamisch oder, genauer gesagt, nicht arabisch sei. Ich fühle mich mit meinem Namen allerdings pudelwohl und irgendwie auch cool. Dass diese Umbenennungen wenig erfolgversprechend sind, bewies unsere Nachbarin Yuk Mimi. Eines schönen Tages bat sie einen islamischen Prediger darum, ihr ständig kränkelndes Kind Dezky in Safruddin umzubenennen. Der Prediger war ebenfalls der Ansicht, dass das Kind unter seinem unislamischen Namen litt. Doch es half nichts. Der zu Safruddin gewordene Dezky kränkelte weiter vor sich hin.

 

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Als ich noch ein Kind war, verstand ich den Islam als eine Kraft, die böse Magie abzuwehren vermag. Ich glaubte ganz fest daran, dass die Verse des Koran böse Geister vertreiben könnten. So war meine Tante Mak Unggal, eine Cousine meiner Mutter und ein Einzelkind, oft von Geistern besessen. Das wiederum machte ein sehr häufiges Rezitieren von Koranversen erforderlich. In den Momenten ihrer Besessenheit war sie eine andere. Sie lachte laut, wurde wütend und ihre Stimme klang plötzlich wie die einer alten Frau. Es konnte einem angst und bange werden. Ich mochte Mak Unggal wirklich sehr, weil sie so gut kochen konnte, vor allem empek-empek, einen Teig aus Fleisch, Fisch und Sago, der entweder frittiert oder gekocht wird. Aber auch sonst war sie einfach sehr nett und immer gesprächsbereit.

 

Eines Sonntags brachte ich meine Eltern dazu, Mak Unggal, die eine Autostunde von uns entfernt wohnte, zu besuchen. Mein Vater fuhr den Wagen, meine Mutter saß neben ihm. Wir Kinder drängten uns auf dem Rücksitz und träumten von den empek-empek à la Mak Unggal. Auf der gesamten Fahrt sang ich mit meinen Brüdern mehr schlecht als recht die englischen Popsongs mit, die mein Vatervorn abspielte. Darunter war ein Lied von Bobby Vinton: „I love how you love, e, whenever you kiss me, I love the way you always treat me tenderly...yyyy... lyyyyyy... lop, lop[1] miiiii....

 

Dazu muss noch gesagt werden, dass mein Vater, bevor er den Wagen startete, immer noch circa zehn Minuten betete. Dabei rezitierte er verschiedene Koranverse. Er war der Ansicht, unsere Fahrt würde unter dem Schutz Allahs ganz ohne Zwischenfälle verlaufen. Als wir endlich bei Tante Mak Unggal angekommen waren, bot sich uns eine absurde Szene: Es wimmelte von Menschen, die ins Haus gingen und wieder herauskamen. Ich beeilte mich also, so schnell wie möglich ins Haus zu kommen, weil ich unbedingt wissen wollte, was da los war.

 

Meine Tante lag in der Mitte des Raumes und fluchte in regelmäßigen Abständen vor sich hin. Sie war schon wieder besessen. Pak Unggal, ihr Ehemann, saß neben ihr und las murmelnd Verse aus dem Koran. Ich war enttäuscht. Dieses Mal würde es also kein empek-empek geben.

 

Als Mak Unggal begann, wild zu schreien, unterbrochen von lautem Lachen, rannten ich und meine Brüder in panischem Schrecken ins Schlafzimmer und versteckten uns unter dem Bett. Wir husteten um die Wette. Offensichtlich war hier noch nie Staub gewischt worden. Pak Unggal und die Leute, die sich um seine Frau versammelt hatten, schreckten auf, als diese plötzlich aufstand und auf den Guavenbaum im Garten zusteuerte. Sie bewegte sich so schnell, dass alle um sie herum in Panik verfielen, während sie sich blitzartig auf dem höchsten Ast des Baumes platzierte. Die Leute stürzten unter den Baum und versuchten schreiend, sie zum Absteigen zu bewegen. Das beeindruckte sie wenig. Als alles nichts half, rief der Nachbar einen islamischen Prediger, der sich bereits einen Namen damit gemacht hatte, den Geist der alten Frau aus dem Körper unserer geliebten Tante zu vertreiben. Der Name des Predigers war übrigens Abang Suhaili bin Abang Aziz. Hinzu kam, dass er der Schwager meines Vaters war. Su Abot, wie wir ihn gewöhnlich nannten, war der Imam der Moschee des Dorfes. Er machte sich sofort daran, Koranverse zu murmeln. Nach einigen Stunden wurde Mak Unggal schließlich schwächer und konnte endlich vom Baum geholt werden.

 

Bis zum heutigen Tage ergreift der Geist ab und an Besitz von ihr. Sie ist nun fast siebzig Jahre alt. Wenn sie wieder einmal plötzlich verschwindet, sucht die Familie zuallererst die Bäume im eigenen Garten und dann die der Nachbarn ab. In der Regel wird sie dann dort gefunden. Was Flugzeugen Flughäfen, sind Bäume für Mak Unggal. Sie klettert zwar affengleich den Baum hinauf, herunter schafft sie es aber nur mit Hilfe ihrer Kinder oder Enkel.  

 

[1] In der indonesischen Aussprache wird das V häufig zu P.

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Linda Christanty und Gunnar Stange, Buchmesse 2015; Bildquelle: Jörg Huhmann

 

Als meine jüngere Schwester Indira, die wir Tata nennen, noch klein war, befiel sie eines Tages eine äußerst merkwürdige Krankheit. Ihre Füße waren geschuppt wie ein Zackenbarsch. Meine Eltern liefen immer wieder mit ihr zum Arzt, aber die Krankheit wollte nicht vergehen. Im Gegenteil, sie verschlimmerte sich. Bis sich der Chauffeur meines Vaters, Mang Tan, der Sache annahm. Seiner Ansicht nach hatte Tata eine allergische Reaktion auf eine Reisschlange erlitten. Das konnte entweder geschehen, wenn diese an einem vorüberkroch, oder aber, wenn man aus Versehen auf sie trat. Mang Tan rezitierte also einige passende Koranverse, die er mit Mantren vermischte. Und siehe da, Tata war auf der Stelle geheilt.

 

Mang Tan ist groß und hat eine dunkle, behaarte Haut. Er hat stets gerötete Augen, aber eine sanfte und überaus höfliche Art. Er lebt in einer Vielehe, was bei uns zu Hause als nicht gerade schicklich und als alles andere als bewundernswert gilt. Seine neueste Frau ist die Enkelin des unsichtbaren Krokodilkönigs Akek Rukam. Als der König dem Tode nahe war, stieg er in den Fluß Perimping, der in die Bucht Teluk Klabat fließt, und verwandelte sich auf ewig in ein Krokodil. Wie man sich angesichts dieser Herkunft vorstellen kann, ist Mang Tan seiner Frau gegenüber ziemlich machtlos. Einmal hat sie ihn sogar während eines Streits aus dem Fenster geworfen. Da wundert es wenig, dass die erste Tochter der beiden »Licht der Hölle« heißt.

 

Mein Großvater mütterlicherseits ist strenggläubig. Früher besaß er viele Amulette aus dem Familienerbe. Als meine Eltern heirateten, fiel das drei Kilo schwere Erbe an meinen Vater. Er behielt allerdings nur einen Ring mit einem orangefarbenen Stein, der seit Generationen in der Familie meines Großvaters weitergegeben wird. Den Ring trug er, bis er vor zwei Jahren starb. Einen Teil der Amulette warf er in den Fluss, einen anderen ins Meer. Mein Großvater hatte nichts dagegen. Schließlich hatte er sie selbst nicht mehr verwendet. Später schloss sich mein Großvater der Muhammadiyah an, einer islamischen Bewegung in Indonesien, die unter anderem stark vom Wahabismus beeinflusst ist. Dennoch hat er nie die Forderungen nach einem islamischen Staat unterstützt und sein Leben lang gegen die Regierung der Neuen Ordnung gewettert. Der Grund, weshalb er sich für die Muhammadiyah entschieden hatte, war, dass sie die Totenverehrung durch Gebete und Speiseopfer verboten hatte. Die Kosten der Totenverehrung sind oft eine schwere Bürde für die Lebenden. Familien eines Verstorbenen sind häufig doppelt gestraft. Einerseits mit der Bürde der Trauer und andererseits mit den Kosten der Totenverehrung. Mein Großvater war strikt gegen Traditionen, die den Menschen das Leben schwer machen.

 

Die Lehren der Muhammadiyah verbieten Häresie (bidah), Aberglauben (kurafat) und Götzenverehrung (kemusyrikan). Häresie umfasst religiöse Praktiken, die mit dem Islam nicht vereinbar sind. Götzenverehrung bedeutet die Verehrung anderer Götter oder Geister neben Allah. Trotz allem sind die Anhänger der Muhammadiyah bei weitem nicht so konsistent, wie man glauben möchte. In Yogyakarta auf der Insel Java wird zum Beispiel akzeptiert, dass der Sultan sich als höchster Führer und Stellvertreter Allahs auf Erden bezeichnet. Und in Yogyakartas Nachbardorf Kauman verehren die Menschen Nyai Roro Kidul, die als unsichtbare Frau eines jeden Sultans von Yogyakarta gilt.[2] Und dennoch verbietet die Muhammadiyah den Menschen, zu den Gräbern in Pagaruyung zu pilgern, wirft den Dayak vor, Holzpfähle zu verehren, und erkennt die Erbfolge der Könige auf Sulawesi nicht an. Aber gegen die Götzenverehrung, die vor ihren Augen in Yogyakarta stattfindet, hat sie nichts einzuwenden. Diese Doppelstandards sind reine Interessenpolitik, denn ohne sie hätte die Muhammadiyah wohl kaum Anhänger in Yogyakarta.

 

Mein Großvater ließ niemals eins seiner fünf täglichen Gebete aus und ging jeden Freitag in die Moschee. Ich weiß nicht genau, weshalb ich bis zum heutigen Tag immer, wenn jemand »Freitag« sagt, das Parfum meines Großvaters rieche. Glaubt ja nicht, dass es Salvatore Ferragamo oder Hermès war. Er kaufte es immer auf dem Markt in der Nähe seines Hauses. Freitags trug er das vertraute Parfum immer auf Hemd, Sarong und Jacke. Turban oder Bart, wie im arabischen Raum üblich, wären für ihn nie in Frage gekommen. Die meisten Menschen vergessen, dass der Islam als Religion und die arabische Kultur als Geburtsstätte dieser Religion zwei unterschiedliche Dinge sind. Der Islam ist etwas für jeden, der an ihn glaubt. Arabische Kleidung, Literatur, Gastronomie und Musik gehören zur Kultur eines Volkes, die nicht unmittelbar mit den Lehren des Islam gleichgesetzt werden darf.

 

Nach der Gebetszeit war unser Haus immer von der Melodie der Koranrezitation erfüllt. Großvater, Vater und Mutter lasen den Koran jeden Tag. Meine Großmutter sah schlecht und konnte die Buchstaben nicht mehr erkennen. Bevor mein Großvater starb, trug er mir auf, meine Eltern zu lieben und nie ein schlechtes Wort gegen sie zu sprechen. Oft hatte er die Stellen im Koran über das Verhalten von Kindern gegenüber ihren Eltern zitiert. Er bat uns, stets gut miteinander umzugehen, unabhängig von Religion und Nationalität, denn alles Böse, so meinte er, werde auf dieser Erde vergolten. Himmel und Hölle seien das Geheimnis Allahs.

 

[2] Dieses Privileg wurde dem derzeitigen Sultan von Yogyakarta Hamengkubuwono X. bisher nicht zuteil.

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Jede Religion kennt ihre Kleidervorschriften. Menschen haben das Recht, die Kleidung zu tragen, die ihnen beliebt. Der Mensch ist mit der Gabe der Vielfalt ausgestattet. Von Geburt an sind wir verschieden, unterschiedlichen Geschlechts, unterschiedlicher Kultur, unterschiedlicher Ethnie und unterschiedlicher Nationalität. Die Unterwerfung der Welt im Namen einer Religion verkehrt diese Gabe in ihr Gegenteil. Ich bekam zum ersten Mal Angst vor dem Islam, als ich eines Tages ein Flugblatt über den Jüngsten Tag las. Damals war ich in der fünften Klasse der Grundschule. Die Flugblätter lagen plötzlich auf dem Schulhof herum. Andere Schüler sammelten sie auch auf und lasen sie. Das Flugblatt zitierte den Wächter vom Grab des Propheten Mohammed, der da gesagt haben soll, dass, wenn ein Objekt am Himmel erscheine, das einem großen Ei ähnelt, der Jüngste Tag gekommen sei. Ich war wirklich in Panik und zeigte das Flugblatt sofort meiner Mutter, als ich zu Hause war. Sie beruhigte mich und sagte, ich solle das nicht glauben. Der Einzige, der um das Kommen des Jüngsten Tages wisse, sei Allah, der Allwissende.

 

Ganz offensichtlich war diese Flugblattaktion ein Akt von Menschen, die versuchen, aus der Religion Profit zu schlagen. Nicht lange nach diesem Vorfall sah man einige Männer von Haus zu Haus gehen und religiöse Bücher verkaufen. Auf einmal gab es auch immer mehr umherziehende Prediger. Einige von ihnen nannten sich ustadz und veranstalteten plötzlich Koranlesungen, Spendensammlungen und Klagefeiern oder vereinten getrennte und einsame Menschen im Namen Gottes. Mein Bruder Budhi meinte, es gebe immer mehr Menschen, die versuchten, ihren Lebensunterhalt mit Religion zu bestreiten. Diese Irrlehren würden auch weiterhin verbreitet werden. Und tatsächlich: ein Neffe meines Vaters wurde von einem Tag auf den anderen der Führer einer islamischen Bruderschaft (tarekat), was meine Familie einigermaßen überraschte. Bang Aton war eigentlich alles andere als religiös. Plötzlich aber hatte er eine glühende Anhängerschaft auf der gesamten Insel Bangka.

 

Wer dieser Sekte beitrat, hatte das Privileg, die Geister der Propheten zu treffen und sich mit ihnen auszutauschen. Es versteht sich von selbst, dass Bang Aton dabei als Medium fungierte. Trotzdem hatten diese spirituellen Übungen keinerlei Einfluss auf die sozialen Kontakte der Bruderschaft nach außen oder auf das öffentliche Leben an sich. Bang Aton gab mir nach wie vor die Hand, wenn wir uns trafen. Ganz anders also, als einige bärtige und nichtbärtige, die einen Händedruck zwischen nicht Verheirateten oder Verschwägerten unterschiedlichen Geschlechts als Tor zur Sünde und jeden als Heiden betrachten, der ihre religiösen Ansichten nicht teilt.

 

Bang Aton hat auch nie behauptet, dass seine religiöse Praxis die einzig wahre sei. Deshalb sei hier auch keine große Sache daraus gemacht. Schließlich hat er sich auch nie mit der Front der Verteidiger des Islam abgegeben. Das einzig Außergewöhnliche an ihm und seiner Gruppe ist letztlich, dass sie sich an bestimmten Abenden in einen völlig abgedunkelten Raum zurückziehen, um ein wenig mit den Geistern der Propheten zu plaudern.

 

Keine Gruppe und kein Religionsgelehrter hat das Recht, darüber zu befinden, was der wahre Islam ist. Zumindest in unserer Familie wurde dieses Prinzip immer hoch gehalten. Meine Tante Mak Sol, deren Namen ich mir bereits für die Geschichte »Der Kirschbaum« geliehen habe, hat meine Brüder, als sie noch klein waren, einmal zu kaltblütigen Mördern gemacht, indem sie ihnen die Lehren ihres Koranlehrers bezüglich islamischen und nicht-islamischen Tieren auftischte. Nach Auffassung dieses Koranlehrers verhielt es sich so, dass Muslime grundsätzlich die Pflicht hätten, Eidechsen zu töten. Schließlich hätten Eidechsen den Propheten Mohammed und seinen Getreuen Abu Bakar durch ihre Laute verraten, als sich die zwei während der Hidschra in einer Höhle vor ihren Verfolgern versteckt hielten. Tatsächlich ist es doch so, dass Spinnen ihre Netze weben und Tauben ihre Eier legen, solange sie nicht vom Menschen gestört werden. Sie tun es einfach.

 

Wie auch immer, der Koranlehrer meiner Tante war jedenfalls der Ansicht, dass die Tötung von Eidechsen während des Fastenmonats Ramadan die irdischen Verdienste des Mörders verdoppeln würde. Das Ende vom Lied war, dass ich meinen Brüdern dabei zusehen durfte, wie sie Eidechsen mit Hilfe eines Schnipsgummis an Wänden und Decken töteten und damit eine Moskitoplage auslösten.

 

Eidechsen sind nun einmal keine denkenden Wesen. Ihr Handeln ist weder gut noch schlecht. Zudem haben Eidechsen als Tiere keine Religion und können somit auch schlecht als Heiden eingestuft werden. Das Tragikomische in Bezug auf die Auslegung der Lehren des Islam ist übrigens nicht auf meine Familie beschränkt. Es ist nicht lange her, da hat der Rat der Islamischen Gelehrten Indonesiens ein Rechtsgutachten zu Zibetkatzenkaffee veröffentlicht. Der dringende Bedarf an diesem Rechtsgutachten ergab sich aus der Tatsache, dass der Kaffee aus dem Kot der Zibetkatze gewonnen wird. Allerdings sei dies dann kein Problem, so der Rat, wenn die Kaffeebohnen anschließend ordentlich gewaschen würden. Man sieht also, dass die Geschichte der heidnischen Eidechsen ganz sicher nicht die letzte Volte islamischer Interpretationen des Alltags war.

 

Aus dem Indonesischen übersetzt und herausgegeben von Gunnar Stange

 

 

 

 

»Ich und der Islam« ist erschienen in dem Essay-und Reportagenband: »Schreib ja nicht, dass wir Terroristen sind!Essays zu Politik, Gender und Islam von Banda Aceh bis Berlin«

 

Horlemann, 2015, 192 Seiten, Klappenbroschur

 

ISBN 978-3-89502-392-7

Preis 16,90 €

 

Ein paar Worte ...| von Sabine Müller, Übersetzerin und Autorin

Zu den sowohl kritisch-journalistischen als auch bedeutenden literarischen Stimmen Indonesiens gehört die Journalistin und Schriftstellerin Linda Christanty (geb. 1970). In ihren Kurzgeschichtensammlungen und Essaybänden setzt sich die Autorin vor allem mit politischen und sozio-kulturellen Themen auseinander. In ihrem Essayband »Schreib ja nicht, dass wir Terroristen sind! Essays zu Politik, Gender und Islam von Banda Aceh bis Berlin« versammelt die politisch engagierte Autorin fünfzehn Texte, in denen sie ihre Beobachtungen von demokratischen Transformationsprozessen, Folgen von Bürgerkrieg und religiös begründeter Macht- und Gewaltausübung auch über die Grenzen Indonesiens hinaus schildert. Die Mehrzahl der Essays widmet Christanty der Provinz Aceh, wo sie von 2005 bis 2011 den Online-Nachrichtendienst Aceh Feature Service führte. Nach über dreißig Jahren des blutigen Bürgerkriegs gestaltet sich der Friedensprozess in der Region äußerst schwierig, der Tsunami 2004 hinterließ zahllose traumatisierte Menschen, und die Einführung der Scharia verschärft die Mittel bei der Durchsetzung politischer Interessen gegenüber der Bevölkerung. Christanty versteht es, mit persönlichen und streckenweise sehr humorvollen Schilderungen ein eindrückliches Bild der gesellschaftlichen Strukturen in Aceh beziehungsweise Indonesiens zu zeichnen und sie in Beziehung mit anderen Regionen der Welt zu setzen.

 

 

 

 

Kategorie: Kultur